Der silberne Schweizer Eishockeyherbst

Die Nati hat bei der WM das ganze Land mitgerissen und die dritte Silbermedaille in den letzten elf Jahren geholt. Wie immer gibt es aber auch die Kehrseite der Medaille; Thomas Roost befasst sich in seinem neuesten Blog mit dieser. 

Herbst, wir stehen doch im Frühling? Die Auflösung dazu später.

 

Bevor ich mich unserem Schweizer Team zuwende, will ich eine allgemeine Würdigung der WM, des Austragungsortes und der Qualität des Turniers vornehmen: 

 

Kurz gesagt: Die WM in Prag war sensationell: Ein perfektes Stadion, Hockey-Town, Hockey-Country, länderübergreifend zehntausende fröhlich feiernde, friedliche, kreative, humorvolle Fans, extrem gut besuchte Spiele, sogar in den zum Teil unbedeutenden Gruppenspielen; dies auch dank einer smarten Ticketpreisstrategie. Prag, auch abseits des Hockeys eine wunderbare Stadt! Kultur, Shopping, Bier, Nightlife and «you name it!» Ich wünschte mir, mindestens für die europäischen Hockeyfans,  dass dieses Turnier in regelmässig kurzen Abständen in Prag stattfindet, sorry Kanada. 

Sportlich gesehen haben wir ein hochklassiges, internationales Nationenturnier gesehen mit teils guten und sehr guten Spielern. Einem guten Dutzend davon gehört sogar die Auszeichnung «Weltklasse». Es gab spektakuläre, höchst unterhaltsame Spiele, gewürzt mit «Flashes» von «High-End»- Hockey. Dieses IIHF-Turnier ist Jahr für Jahr ein Fest des Eishockeys und eine Geldmaschine, aber die Benennung Weltmeisterschaft ist irreführend. Ich kenne ausser Eishockey keine Sportart, bei der anlässlich von Weltmeisterschaften nicht die bestmöglichen Athleten antreten. Ok, in der Zukunft scheint es so zu sein, dass immerhin alle zwei Jahre ein «Best of-Turnier» stattfinden wird. Alternierend zwischen Olympia und einem von der NHL organisierten Event. Falls dem so sein wird, dann bin ich mit der jährlich IIHF-WM – so wie sie heute konzipiert ist – zufrieden. Aktuell wissen wir aber nicht, wer denn wirklich die weltweite Nr. 1 im Eishockey ist: Kanada oder die USA? Oder doch eine europäische Nation? Das Fehlen der weltbesten Stars schmerzt und auch wenn diese Aussage in unseren Breitengraden in der aktuell polarisierenden Diskussionskultur nicht mehrheitsfähig sein mag: Mindestens aus sportlicher Sicht fehlen die Russen und nicht zu vergessen Belarus. Das Fehlen dieser Nationen relativiert auch die immer wieder zu hörende statistische Errungenschaft – die mit Fortschritt gleichgesetzt wird - der regelmässigen Viertelfinalqualifikation Deutschlands und der Schweiz. Die Russen fehlen nicht nur als Top-Nation, sondern auch als Farbtupfer mit ihrer speziellen Hockeykultur, die sich von der skandinavischen und der nordamerikanischen noch immer spürbar unterscheidet. Belarus fehlt als Herausforderer der nachrückenden Nationen der A-WM, leider war der Qualitätsunterschied zwischen den besten und den schwächsten Nationen an dieser WM noch immer zu gross. Russland und Belarus würden die Charakteristik der Gruppenspiele völlig verändern. Das jetzt leichte Spiel für Nationen wie Deutschland, die Slowakei und die Schweiz würde in den Gruppenspielen einem sportlich spannenden Wettkampf weichen. 

 

Gewinner dieses Turniers sind neben dem überzeugenden Champion und grossartigen Gastgeber Tschechien die NHL-Stars bei Schweden, USA, Tschechien und der Schweiz. Kanada verzichtete auf ihre grossen Nummern und bezahlte dies mit dem enttäuschenden vierten Rang. Enttäuschend Finnland, welches fast gänzlich auf NHL-Verstärkung verzichtete und mit ihrer auf Spielkontrolle ausgerichteten Strategie die Zuschauer kaum von den Sitzen zu reissen vermochte; diese Entscheide werden sie wohl bereuen. Eindrücklich, wie die Weltklasse-NHL-Verteidiger der Schweden, die individuelle Klasse vieler US-Amerikaner, das NHL-Bermuda-Dreieck der Schweizer, sowie «Pasta» und Necas das Niveau dieses Turnier veredelten und uns vor Augen hielten, welches Niveau über dem Teich zelebriert wird. Insgesamt war das Niveau der besten Spieler deutlich besser als in den letzten zwei, drei Jahren, was den Erfolg der Schweizer noch wertvoller macht. Schweden, aber auch die USA sind in diesem Jahr erfreulicherweise davon abgerückt, eine Art U23-Auswahl an die IIHF-WM zu delegieren und auch Tschechien und die Schweiz haben alles dafür getan, die den Umständen entsprechend bestmöglichen Spieler zu motivieren. 

Die Schweiz

Die Schweiz hat eine grossartige WM gespielt und die Silbermedaille gegen deutlich besser besetzte Konkurrenz als bei den bisherigen Medaillengewinnen verdient erkämpft. Unsere Jungs zeigten attraktives Hockey, getragen von einer überraschend effektiven Organisation im Spiel ohne Scheibe und in den Finalspielen genährt durch eine überragende Goalieleistung von Leonardo Genoni. Veredelt wurde dieses sympathisch aufgetretene Team durch einen Hauch von Weltklasse: Roman Josi, die Leichtigkeit des Seins, Ausstrahlung, Skills, Skating, schlicht und einfach eine Lichtgestalt des Eishockeys. Kevin Fiala, erst vor wenigen Tagen zum ersten Mal Vater geworden und trotzdem sofort ins Flugzeug gestiegen: Ich verneige mich tief, dies nenne ich «Commitment». Es ist das grösste Verdienst von Patrick Fischer, dass er es mit seinem «Staff» immer wieder schafft, alle möglichen Stars an «Board» zu holen. Die Zeit bei «Fischi» scheint auch für abgebrühte NHL-Stars eine gute zu sein. Diese Fähigkeit ist nicht hoch genug einzuschätzen und ist als Nationaltrainier ungleich wichtiger, als das Finden eines geeigneten Spielsystems, die Nominierung von X oder Y im zweiten oder dritten Block and «you name it.» Die Silbermedaille ist im «Big Picture» alles andere als überraschend. Was den Deutschen, den Slowaken und den Letten gut ist soll uns recht sein. Mit dieser Besetzung gehörten wir nach den Schweden und den USA zu den Mitfavoriten, auch auf den Titel. Ja, auch Gold ist in diesem Format nicht unmöglich, weder für uns noch für die Deutschen, falls auch sie weitgehend in Bestbesetzung antreten können. Noch ein Wort zum Finalspiel. Es war ein disziplinierter Abnützungskampf auf hohem Niveau. Tschechien war eine Spur besser, etwas aktiver und physisch stärker. Das Spiel stand aber auf Messers Schneide, es hätte fast ebenso gut auf unsere Seite kippen können. 

Zurück zu den Spielern:

Kevin Fiala mit seinen Geniestreichen. Nico Hischier, die Verkörperung eines unglaublich kompletten, smarten Zweiwegcenters: 19 von 20 seiner Entscheidungen auf dem Eis sind immer die richtigen. Nino Niederreiter, die Schweizer Antwort auf den typisch nordamerikanischen Powerforward, ein weiteres Bilderbuchvorbild für unsere Kids. Die Ergänzungsspieler aus unserer Liga, die ebenfalls für ihre Verhältnisse gute bis sehr gute Leistungen ablieferten. Es gilt hier vor allem Leonardo Genoni hervorzuheben, der in den Finalspielen grossartige Leistungen zeigte und damit unserem Team immer die Chance zum Gewinnen gegeben hat. 

 

Der silberne Herbst:

Unser Kalender zeigt den Wonnemonat Mai, ich spreche aber vom Herbst im Schweizer Eishockey. Dies bezieht sich auf das Zeitfenster der jetzigen Generation von NHL-Top-Spielern. Das Zeitfenster schliesst sich langsam, aber sicher; ich gebe diesem Team noch ca. 3-4 Jahre auf diesem Leistungslevel. Josi und Niederreiter sind deutlich über 30 Jahre alt. Kevin Fiala und Nico Hischier sind mehr oder weniger auf dem Zenit ihrer Leistungsfähigkeit, sehr viel besser werden sie vermutlich nicht mehr. Obwohl aktuell noch keine klare Nr.1 als Nachfolger von Genoni in Sicht ist, macht mir die Goaliesituation am wenigsten Sorgen. Es wird sich jemand finden, der vielleicht nicht die jahrelange Genoni-Konstanz aber doch immerhin die Fähigkeit hat, an einem Turnier über sich hinaus zu wachsen. Connor Hughes zeigt sehr gute Ansätze, Akira Schmid muss noch beständiger werden und bei den jüngsten Jahrgängen gibt es das eine und andere wirklich gute Goalietalent. Schwierig sieht die Zukunft aus bei den Skatern. Seit Jahren produzieren wir kaum noch NHL-Draftpicks und falls doch, dann keine absoluten Topshots. In den letzten Jahren waren die Deutschen und vor allem die Slowaken diesbezüglich spürbar erfolgreicher und selbst den Vergleich mit Oesterreich bestehen wir kaum. Vor einem Jahr hatte ich ziemlich grosse Hoffnungen, was den Jahrgang 06 betrifft. Ich ortete einen wirklich guten Jahrgang. Im Verlaufe dieser Saison musste ich meine Erwartungen nach unten korrigieren. Es wird Draftpicks geben, aber z.B. selbst Norwegen wird in diesem Jahr erfolgreicher abschneiden als wir. Für den Draft 2025 sieht es aus heutiger Sicht auch nicht besser aus. «Houston, we have a problem» und ich habe die Befürchtung, dass dieses Problem aufgrund der erfolgreichen Liga und der jetzt erfolgreichen Silber-Truppe nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und Dringlichkeit geortet und angepackt wird. Erfolg macht lernbehindert: Diese Gefahr besteht jetzt, im Rausche des Erfolgs, sehr akut! Ich «opfere» mich als Ueberbringer der schlechten Nachricht, während sich die Verantwortlichen im Champagner baden. Irgendwie tun sie dies zu Recht, aber es ist auch brandgefährlich! Zurück zum Zeitfenster. Unsere Nati befindet sich noch nicht im Winter des Erfolgszyklus, es ist Herbst, vielleicht sogar bereits Spätherbst… und der Winter kommt bestimmt. Die Saat für den Frühling wurde verpasst, wir benötigen eine «Anbauschlacht»…, immerhin haben wir Erfahrung darin, allerdings nicht im Eishockey.

Thomas Roost ist seit 1996 NHL-Scout für den Central Scouting Service und verfolgt die beste Liga der Welt hautnah.
Für MySports ist Roost als NHL-Experte & Co-Kommentator im Einsatz.
In seiner wöchtenlichen Kolumne «Roosts Ramblings» schreibt er über Themen aus der NHL und der grossen Hockey-Welt.

https://www.thomasroost.com I Twitter: @thomasroost

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